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21. Januar 2008 / competenceselling

Stand der Hirnforschung

„Zwei große Entwicklungen prägen die moderne Neurowissenschaft. Zum einen gewinnen die Forscher immer präzisere Erkenntnisse über die molekulbiologischen Vorgänge im menschlichen Gehirn. Zum anderen ermöglichen ihnen immer leistungsfähigere Bildgebungs-Verfahren, Hirnfunktionen besser zu verstehen. Die große Herausforderung der Hirnforschung liegt bis heute darin, diese beiden Ansätze miteinander zu verbinden.

Moderne Bildgebungsverfahren wie die funktionelle Magnetresonantomografie (fMRT) erlauben es, das lebende Gehirn gleichsam beim Denken zu beobachten. Man macht sich dabei die Tatsache zunutze, daß neurale Aktivität zu einem erhöhten Blutfluß in der betreffenden Hirnregion führt (siehe auch: Technische Grundlagen). Zunächst benutzten die Hirnforscher fMRT, um grundlegende Funktionen wie Motorik, Aufmerksamkeit oder Sprache zu untersuchen. Doch seit einigen Jahren wird die Methode auch für das Studium höherer kognitiver Funktionen verwendet, etwa der Verarbeitung von Emotionen im Gehirn.

Die Verbreitung der fMRT-Methode hat zu einer unüberblickbaren Fülle einschlägiger Studien und zur Entstehung neuer Forschungsfelder geführt. Die sogenannte „soziale Neurowissenschaft“ etwa sucht nach „neuralen Korrelaten“, also nach den Hirnaktivitäts-Mustern, die mit menschlichem Sozialverhalten wie Empathie, Liebe oder Aggression zusammenhängen. Dabei geraten die Forscher immer wieder auf heikles Terrain. In den USA wurde bereits die Möglichkeit diskutiert, die fMRT als Lügendetektor oder zur Terroristenabwehr an Flughäfen einzusetzen. Für Aufregung sorgten auch Versuche sogenanter Neuromarketing-Forscher, mit Hilfe der fMRT die neuralen Mechanismen hinter dem Kaufverhalten zu ergründen. Die Diskussionen haben zur Entstehung der Neuroethik geführt, die sich unter anderem mit der Gefahr der Überinterpretation und des Mißbrauchs bildgebender Verfahren beschäftigt.

Viele Wissenschaftler halten den Aussagewert der funktionellen Bildgebung für begrenzt. Vor allem verweisen sie darauf, daß die fMRT keine Aussagen über die Ursachen eines bestimmten Verhalten liefert, sondern lediglich über die Aktivierung einer bestimmten Hirnregion. Unter den meisten Hirnforschern besteht Einigkeit, daß sich kognitive Phänomene in der Regel nicht eindeutig bestimmten Hirnregionen zuordnen lassen.

Bislang war die fMRT vor allem ein Instrument der Grundlagenforschung. In den nächsten Jahren dürfte das Verfahren aber auch in den klinischen Einsatz gelangen. So erhofft man sich, daß die fMRT in Zukunft als wichtiges Hilfsmittel bei der psychiatrischen Diagnostik dienen könnte. Ein weiterer Trend geht derzeit dahin, die fMRT mit verschiedenen anderen Verfahren zu kombinieren. So versucht man etwa, die hohe räumliche Auflösung der fMRT mit der hohen zeitlichen Auflösung der Elektroenzephalografie (EEG) und der Magnetenzephalografie (MEG) zu verbinden.

Molekularbiologische und gentechnische Methoden haben ein tieferes Verständnis der komplexen biochemischen Mechanismen im Gehirn gebracht. Eine Reihe von Experimenten mit gentechnisch veränderten sogenannten Knockout-Mäusen lieferten etwa wichtige Erkenntniss über die Rolle bestimmter Rezeptoren und Neurotransmitter bei Gedächtnisbildung und Lernen. Damit wächst allerdings nicht nur die Chance, eines Tages degenerative Hirnerkrankungen wie Alzheimer wirksam behandeln zu können. Einige Hirnforscher, wie etwa Nobelpreisträger Eric Kandel, halten sogar die Entwicklung gedächtnissteigernder Medikamente für möglich. Erste Neuropharmaka, die gezielt auf in hirnchemische Mechanismen eingreifen, etwa um das Schlafbedürfnis zu unterdrücken, sind bereit auf dem Markt. Kritiker fürchten, daß Gedächtnis- und Glückspillen zu einer völlig neuen Drogenproblematik führen könnten.

Fortschritte machen die Forscher auch bei sogenannten Hirn-Maschinen-Schnittstellen. Dabei benutzen die Forscher zum einen nichtinvasive Methoden wie das EEG. Oder man versucht, mit einem direkt in die Schädeldecke eingesetzten Chip, elektrische Neuronenaktivität aufzunehmen und mit diesen Signalen einen Computer anzusteuern. Neuroimplantate könnten eines Tages etwa vollständig gelähmten Menschen ermöglichen, eine Prothese oder einen Mauszeiger am Bildschirm durch reine Gedankenkraft zu bewegen. Erste Versuche am Menschen laufen bereits. Doch bis zur Marktreife solcher Technologien werden noch viele Jahre vergehen.

Zwischen den vielen neuen molekularbiologischen Erkenntnissen und dem wachsenden Verständnis der Hirnfunktionen klafft immer noch eine große Lücke. Die Forscher hoffen, daß sie eines Tages die immensen Fortschritte der Bildgebung mit dem immer detaillierteren Wissen auf molekularer und genetischer Ebene verbinden können. Als vielversprechend gilt etwa „Imaging Genomics“, der Versuch, genetische Assoziationsstudien mit Bildgebung zu kombinieren.

Von einer gesamtheitlichen Theorie des menschlichen Denkens ist die Hirnforschung jedoch noch immer weit entfernt. Der Grund liegt in der enormen Komplexität des menschlichen Gehirns.
Leistungsfähige Supercomputer sollen nun den Hirnforschern auf die Sprünge helfen.
An der Technischen Hochschule in Lausanne wollen Biologen und Informatiker auf dem Supercomputer „Blue Gene“ ein detailgetreues Abbild eines Teils der Großhirnrinde simulieren. Das ausgewählte Hirnstück, die „kortikale Kolumne“, gilt als universeller Schaltkreis von Intelligenz schlechthin. Die Kolumne enthält etwa 10000 Neuronen mit 1000 bis 10.000 Kontaktstellen zu anderen Nervenzellen. Die Simulation soll das Zusammenwirken all dieser Zellen detailgetreu nachbilden. Das Experiment könnte den Hirnforschern wichtige Hinweise liefern. Dennoch gilt der Wert solcher Computersimulationen als umstritten. Manche Theoretiker glauben ohnehin, daß die Hirnforschung letztlich im Dunkeln tappt. Der angesehene Physiker Roger Penrose etwa meint, daß das Gehirn und damit das menschliche Bewußtsein nach den mysteriösen Regeln der Quantenwelt funktioniert.“

Quelle: Thomas Vasek, TECHNOLOGY REVIEW, 11/07

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